96kHz-Serie "Kleines Gesangs-ABC für ProduzentInnen"

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Teil 8: Haltung vor dem Mikro

(Artikelserie aus dem 96kHz.de-Online-Magazin 2009-2010)


Eine mir häufig gestellte Frage lautet: „Wie soll man denn nun vor dem Mikro stehen?“ So wie Lemmy von Motörhead? Die Lyrics mit „überstrecktem Hals und der Studiodecke im Blick ins Mikro quetschen?“ Nun – wenn Sie diesen Sound brauchen oder wollen und Ihre GesangsinterpretInnen keine Nackenprobleme haben: Bitte sehr – jeder wie er mag. Und nix gegen Lemmy ;-) Für eine "bestmögliche Resonanz" (Stichwort "Kehlfreiheit") ist diese Art Haltung jedoch der Todesstoß: Sobald die Kehle eng wird, singen Ihre KünstlerInnen (vereinfacht ausgedrückt) nur noch "aus der Mundhöhle" und ohne die notwendige Resonanzsäule im Körperinnern. Mit enger Kehle wird die vielversprechenste „Rock-Röhre“ zum „dünnklingenden Resonanz-Strohhalm“.

Jede falsche Einstellung zerstört die Gesamtharmonie des Körpers, der in seiner Ganzheit singt […] Jede gezwungene Kopfhaltung, die winkelmäßig zum Rumpf in falschem Verhältnis steht, belastet den Kehlkopf.

Paul Lohmann

Bilder für die Haltung

Im Folgenden geht es um eine reine „Haltungsbetrachtung aus SängerInnensicht“: Wie Sie anschließend aus „klanglichen Beweggründen“ Ihr Mikrofon positionieren und auf welche Mikrofon-Hardware Sie dabei setzen, bleibt Ihrem Geschmack und Ihrer Erfahrung überlassen. All dies wurde schon an anderen Stellen zur Genüge publiziert und ist nicht Gegenstand des vorliegenden Artikels.

Ein wichtiger Grundsatz

Den Kopf nicht nach oben oder unten überstrecken – aber auch keine „Soldatenhaltung mit schnurgeradem Blick und vorgeschobenen Kinn“. Die Gesangs-PädagogInnen der klassischen Musik beschrieben die richtige Haltung unter anderem mit Anweisungen wie: "dem Gefühl aus der Körpermitte nach oben und unten auseinander gezogen zu werden".

Dieses "auseinander gezogen werden" kann man nun mit mehreren Visualisierungen umschreiben und trainieren: Das “Bild des Baumes” ist hier wohl "der Klassiker" - und durchaus auch gut geeignet. Ich persönlich habe aber in meiner Unterrichtspraxis noch bessere Erfahrungen mit dem “Bild der Marionette” gemacht. Daher möchte ich Ihnen dieses “Vorstellungs-Bild” hier kurz erläutern:

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Von den Hacken zum Nacken

Sängersprichwort

Die Marionette

Stellen wir uns vor, wir wären eine Marionette. Natürlich nicht im Sinne unserer künstlerischen Rolle im Musikbusiness – sondern nur kurzfristig und zu reinen Übungszwecken ;-) Die Marionette hängt an Fäden. Somit ist ihr “nach Unten gezogen werden” (ihre Erdung durch die Schwerkraft) ebenso wie “der Zug nach oben” (durch den “Fäden ziehenden Puppenspieler”) gegeben.

Die Fäden unserer Marionette befinden sich am Kopf, den Händen und vielleicht noch an den Ellbogen. Sie hat also keine Fäden an den Schultern (auch wenn echte Marionetten solche Fäden schon mal haben – unsere Haltungs-Marionette hat keine). Dadurch können wir die Schultern nicht hochziehen und den Kopf nicht in den Nacken legen! 

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Der ”Hauptfaden” des Kopfes ist im Bereich der “kleinen Fontanelle” befestigt – bzw. leicht oberhalb davon (die kleine Fontanelle – auch Fonticulus posterior bzw. Hinterhaupts-Fontanelle genannt – ist der Punkt am oberen Hinterkopf, wo die “Säuglings-Schädeldecke” zuletzt zusammen wächst):

Sagen wir es anders: Dieser "Hinterkopf-Faden" ist nicht "mittig oben auf dem Kopf" angebracht (denn dann würden wir uns mit Soldaten-Haltung, leicht angehobenen Kinn "geradeaus in den Spiegel in die Augen schauen") – sondern "etwas weiter hinten" (siehe Foto):

Im Unterricht sage ich immer: "Wir schauen auf einen Punkt circa 10 bis 15 Meter vor uns auf den Boden" Was oft gut mit der Praxis des "von der Bühne ins Publikum hinab sehen" vereinbar ist. Aber Achtung: 

 

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Ich spreche hier von der Kopfhaltung – nicht von der "Blickrichtung"

Aufgrund unserer Doppel-S-Form der Wirbelsäule ist dieses "leicht hinunter schauen" die natürliche Haltung, welche die Kehle nicht durch Stauchung oder Überstreckung einengt. Wichtig: Ich meine mit "leicht nach unten schauen" den Neigungswinkel der Gesichtsfläche – nicht die reine Blick-Richtung der Augen: Denn man könnte sicher auch den Kopf überstreckt in den Nacken legen und nur "mit den Augen hinabsehen" :-) Anders herum kann man mit "richtiger Haltung" auch ohne übertriebenes Kopf-Überstrecken "von unten nach oben sehen".

Noch konkreter: Durch diesen "Hinterkopf-Faden" geht der Blick – beziehungsweise eben richtiger gesagt "die Kopf-Haltung" – auch bei angezogenem Faden also immer leicht nach unten. Dieses “leichte nach unten neigen” erfolgt jedoch in einem sehr geringen Winkel, d.h. das Kinn wird auf keinen Fall an die Brust gezogen (die obenstehend abgebildete Jacko-Marionette wirkt aufgrund der Foto-Perspektive ein wenig so)! Der Faden ist ja besagter Weise nicht am unteren Hinterkopf – sondern am oberen (hinterer Scheitel) befestigt.

Der gute Lemmy :-)

Also bitte keine Extrem-Haltungen à la dem guten Lemmy – mit hochgezogenem Kinn von unten ins Mikro singend – sondern ein "leichtes Hinabsehen auf einen etwa zehn bis fünfzehn Meter entfernt liegenden Punkt am Boden" (es geht dabei um den Winkel – nicht um die Aufnahmeraumgröße ;-)).

Der Hinweis "Du singst von der Bühne ins Publikum" kann manchmal schon ganz gut helfen: Solange die KünstlerInnen dabei nicht vom Bühnenrand direkt in die davorliegende Security- Absperrung "hinunter sehen" – oder nur "ebenerdige Gigs aus Jugendzentren mit Publikum auf Augenhöhe kennen" :-)

Ein Zuviel des Hinunterschauens oder gar ein „Kinneinziehen und zwei Meter vor die Füße schauen“, macht die Kehle ebenso eng wie ein „überstrecktes Hinaufsehen“ (dieses “Verengen” wird in der Gesangspädagogik als kompensatorische Spannungserhöhung mit negativen Auswirkungen auf die äußeren und inneren Kehlkopfmuskeln – sowie der Kiefermuskulatur und Zungenspannung – definiert).

Also nochmal zusammengefasst: Wir Menschen haben eine Wirbelsäule in Doppel-S-Form – daher sollte die Kopfhaltung optimalerweise diesen besagten leicht nach unten geneigten Winkel haben. Auch wenn der Blick während des Singens mal “extremer” nach oben gerichtet werden muss (z.B. in bestimmten Bühnensituationen: Musical; Schauspiel etc.) können wir mit nahezu unveränderter Kopfhaltung “mit den Augen von unten hinaufblicken”, um so ein Verengen der Kehle zu vermeiden.

Füße, Knie – und individuelle Sonderfälle

Nun zu den Füßen, dem Fußabstand und allgemein zur Beinsituation. Zunächst: Die Knie sollten locker – und nicht durchgedrückt sein:

Die Füße stehen parallel und circa hüft- bzw. schulterbreit auseinander (manch eine(r) spricht nur vom “hüftbreiten Fußabstand” – ich mache dies meist von der individuellen, physiognomischen Situation abhängig und möchte hier einschränkend schreiben: Fußabstand bitte nicht über die Schulterbreite hinaus).

Apropos: All diese Haltungsanweisungen hängen unter Umständen eben auch von besagten “individuellen physiognomischen Aspekten ab”: Ich habe einmal mit einem Sänger, der eine Wirbelsäulen-Verkrümmung hatte, eine “vom Lehrbuch abweichende Haltung” erarbeiten müssen, da dieser in der “optimalen Haltung” so eng klang, wie ein anderer mit “eingezogenem Kinn”: Erst durch ein “leichtes (zu hohes) Heben des Kinns, erklang der Ton bei ihm frei und unbeengt:

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Die “richtige Lehrbuch-Haltung” wurde von ihm als “gezwungene unangenehme Kopfhaltung” empfunden, welche es ja – wie im Eingangszitat von Paul Lohmann erwähnt – zu vermeiden gilt. Ohne Frage sollte hier der Weg des betroffenen Sängers natürlich baldigst in die Orthopädie oder Physiotherapie führen (!) – dennoch erforderte die aktuelle Buchungs-Situation des Herren “schnelle Abhilfe”. Neben solchen recht seltenen “Sonderfällen” bietet die oben beschriebene Übung jedoch einen recht guten “An-Halts-punkt”. Präzisieren wir noch etwas:

Auf-Richtig

Beim Finden der richtigen Haltungsspannung kann des Weiteren das “Aufrichten im Hängegefühl” eine gute Hilfe sein: Sie erinnern sich? Sie sind immer noch eine Marionette ;-) Stellen Sie sich nun vor, Ihr Puppenspieler lässt Sie “nach hinten auf einem imaginären Barhocker niedersitzen”:

Dazu lockert er den Zug der Fäden und lässt Sie auf den Hocker sinken. Sie sacken dabei aber nicht chaotisch zusammen – wie dies echte Marionetten vielleicht täten – sondern führen diese Abwärtsbewegung lediglich über die Knie aus: Der gesamte Oberkörper bleibt dabei gerade, ohne nach hinten, vorne oder seitlich einzuknicken (ein “Vorlehnen” oder eine “Fragezeichenhaltung” wären falsch und könnten zu hinderlichen Muskelanspannungen – zum Beispiel seitens der Bauch- oder Rückenmuskulatur – führen).

Kurzer Exkurs hierzu

Eine gute Vorstellung für die gerade, hängende Haltung ist u.a. das “Anseilen an einem Kletterseil”: Sie haben sich, auf dem Boden stehend, angeleint. Ihr Partner zieht (oben im Fels stehend) das Seil stramm – und Sie “setzen sich nun in das bereits gespannte Seil hinein”. Da das Kletterseil kein Gummiband ist, gibt es dabei nur “ganz wenig nach”: Dies reicht aus – also bitte nicht zu tief in die Knie gehen! Und noch ein Beispiel zur “Vorstellung des geraden Oberkörpers”: Würden Sie “mit einem Fallschirm abspringen”, dann wären Sie “das Lot am Ende des Fallschirms” – und könnten sich nicht nach hinten, vorne oder seitlich herauslehnen – Sie sind ja der unterste Punkt und haben unter den Füßen keine Bodenberührung).

Nun weiter: Wenn Sie der Puppenspieler nun am “Fontanellen-Faden” wieder vom Barhocker in den Stand hinauf zieht, dann “richten Sie sich von unten in die optimale Haltung auf”. Damit wird jegliches “Überstrecken und Strammstehen” im Ansatz vermieden: Sie begeben sich zuerst unter “eine imaginäre Nullstellung” und ziehen sich dann locker in die richtige Haltung hoch - bis Sie “mit lockeren, federnden Knien (nicht durchgedrückt)” wieder aufgerichtet “hängen”.

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Balance

Es geht um ein “Balancegefühl über der Körpermitte” bzw. über dem sogenannten “Hara-Punkt” (das japanische Hara als “Sitz der Seele” wird zwei bis drei Finger unter dem Bauchnabel in der Körpermitte lokalisiert. Hier liegt auch der physiologische Schwerpunkt des menschlichen Körpers: Immer innen – nicht “außen vor oder hinter dem Körper”).

Das hier Beschriebene dient dem “grundsätzlichen Finden und Einüben der optimalen Haltung” und wurde nur deshalb so wortreich von mir umschrieben, um mögliche Fehler bei der Durchführung auszuschließen: Die “individuelle, optimale Haltung” lässt sich letztlich nur Vis a Vis erarbeiten, da jeder Mensch verschieden ist und die Fehlermöglichkeiten somit auch äußerst zahlreich sind – ich sprach im letzten Artikel schon davon: Singen lernen über einen Website-Artikel ist leider nicht möglich – die Grundzüge der “richtigen Körper-Haltung” sollten nun aber nachvollziehbar geworden sein.

Und um die typische Frage dieses Zusammenhanges vorweg zunehmen: Auch wenn man sich zweifelsohne auf der Bühne viel bewegt und tanzt – oder die Ballade sitzend am Klavier singt:

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Waage

Fazit: Die beiden Gegenpole “nach oben & nach unten” sowie der “unverkrampft um die Luftresonanzsäule über dem Körper-Schwerpunkt aufgerichtete Oberkörper” und ein “Balancegefühl über der Körpermitte” bleiben das Zentrum einer stimmdienlichen Haltung:

Wie immer wichtig: Wenn es dann ans Singen geht – bitte bloß nicht mehr ständig an Haltung, Fäden etc. denken, sonst wird es verkopft und krampfig!

Die richtige Haltung sollte vielmehr im täglichen Üben der SängerInnen trainiert werden und dann schließlich “automatisiert und unbewusst vor dem Studiomikro auftauchen”. Deshalb lernt man so etwas ja “vorweg in der Ausbildung”.

Vergleichbar mit dem (im ersten Artikel dieser Serie erwähnten) “Umgang mit Messer und Gabel”: Sobald gesungen wird, sollte es nur noch ums leckere Essen gehen – und nicht mehr um die Werkzeuge ;-)

Ich wünsche guten Appetit!

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Im kommenden Artikel wird es “ordentlich was auf die Ohren geben”: Es wird in Teil 9 um das Thema “Kopfhörersound” gehen. Aber ebenso wie im vorliegenden Artikel wird es auch in Teil 9 weniger um die “(Kopfhörer-)Hardware” gehen – sondern vielmehr um die Frage, was “unter dem Kopfhörer bei den SängerInnen passiert”. (tg)

Info zu 96kHz:

Seit 2015 ist die Website www.96kHz.de offline.

Die hier archivierte Vocalcoaching-Serie 
war von 2009 bis Anfang 2015 im Onlinemagazin auf 96kHz.de zu lesen.
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