96kHz-Serie "Kleines Gesangs-ABC für ProduzentInnen"

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Teil 10: Hall - Eine gesangsphilosophische Betrachtung des Raumes

(Artikelserie aus dem 96kHz.de-Online-Magazin 2009-2010)


Heute, im vorerst letzten Teil dieser Serie, möchte ich mir erlauben einmal etwas weiter auszuschweifen ;-) Ich möchte dabei die “rein äußeren Bereiche der Materie” – wie beispielsweise die Einflüsse von Raumreflektionen und Knochenklang auf den subjektiv empfundenen Kopfhörersound – mit der inneren Empfindung der Singenden verbinden. Wir haben letzte Woche beim Thema “Hall im Kopfhörersound” geendet; nun eine genauere – gewissermaßen “innere” – Betrachtung des uns umgebenden Raumklanges:

Eines Tages kommt dann der große Augenblick, an dem der Sänger spürt, dass seine Stimme von der Mitte geführt, also körperlich, kreatürlich geworden ist; doch das Paradoxe ist, dass sie für den Singenden so klingt, als ob sie sich von ihm losgelöst hätte; schwingend wie aus einer anderen Welt tönt sie im Raum.

Elisabeth Fischer-Junghann

Hallo Echo – Hallo Otto

Wo immer man eine Schar Kinder durch einen längeren Tunnel laufen sieht, hört man schon bald deren "Hallo!" und "Echo!" Rufe. Dies scheint ein menschliches Grundbedürfnis in hallenden Höhlen oder Schluchten zu sein, welches wohl die meisten von uns schon einmal selbst verspürt haben ;-) Insbesondere bei den jungen AnfängerInnen in meinem Unterricht bemerke ich – nach deren Entdecken des Hall-Plug Ins – oftmals eine vorübergehende Phase der Hallverliebtheit und eines gelegentlichen Zuviels in der Verwendung dieses Effektes (ja, auch noch jenseits der 80er Jahre). Warum ist das so?

Schluchten und Höhlen

Wenden wir uns einmal einem frühzeitlichen Trommler oder Sänger zu: Im Nachhall seiner Trommelschläge und Gesänge in Talkesseln, Wäldern und Schluchten – und nicht zuletzt auch in entsprechend geeigneten Höhlen – erkennt er, was seiner Wahrnehmung in reflexionsfreien Geländeabschnitten sonst verborgen ist:

Der Trommel-Ton entfernt sich und ist noch unterwegs, obwohl der eigentliche Schlag schon beendet ist. Was nun geschieht, lässt sich gut am Beispiel der Gesangsstimme verdeutlichen: Der Höhlensänger beendet seinen Gesang und hört: Sich selbst!

Eine Erfahrung, die er nirgendwo so deutlich, wie hier im "Naturhall" – seinem akustischen Spiegel – machen kann.

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Was? So klinge ich?

Anrufbeantworter gab es ja noch nicht ;-) Die meisten Menschen, die sich heutzutage zum ersten Mal von einer Tonband- oder Digital-Aufnahme hören, kennen den Effekt des: "Was? So klinge ich? – O Gott! Mach´ das schnell aus!"

Das klangliche Spiegelbild stimmt dabei nicht mit dem eigenen “innerem Hör- und Fühl-Bild” überein. Das bringt eine zuvor nicht gekannte Perspektive – die Ahnung einer (fast) egolosen Objektivität – ins Spiel. Neben anatomischen Phänomenen wie fehlendem Knochenklang, wegfallender Eustachischer Röhre etc. erlebt man dabei vor allem eins: Man hört sich, wie man sich sonst nie hört: Von Außen! Man erfährt sich so, wie man von allen anderen – außer sich selbst – immer gehört wird, da man sich “losgelöst von den zum Zeitpunkt der Aufnahme an die Stimme gekoppelten, ausgedrückten Emotionen selbst und nahezu unbeteiligt zuhört”. Auch wenn es etwas esoterisch klingt: Das in sich geschlossene, autarke “Persönlichkeit-Körper-System des Ich" erkennt sich selbst im "Außen der Welt". By the way: Die Vorsilbe eso- weist auf den “inneren Kreislauf” – im Gegensatz zur Vorsilbe von Exo-terik. Beide Begriffe passen hier also recht gut ;-)

Aufgrund der akustischen Resonanzgesetze wissen wir, dass alles, also auch jeder Körper oder Raum, "Schwingung" ist und an einen bestimmten Frequenzpunkt – dem sogenannten Eigenton (auch Eigenresonanz) – besonders stark anspricht und "resoniert". Dabei handelt es sich schlicht um physikalische Schwingungslehre. Der Eigenton eines Raumes ergibt sich bekannterweise aus Komponenten wie Raummaßen, Luftvolumen, Oberflächen-Beschaffenheit, und so weiter. Tonfrequenzen – also Schwingungen – die mit einen solchen "Raumeigenton" identisch sind oder intervalltechnisch gut mit diesem harmonieren, setzen den Raum besonders stark in Schwingung und klingen daher besonders "laut".

Diese Tatsache führte beispielsweise auch dazu, dass man sich dieser zentralen Eigenresonanzen beim Bau von Stadien- und Fußballtribünen schmerzlich bewusst wurde – und sogar einige frühe Hängebrückenkonstruktionen diesem "Eigenresonanz-Phänomen" erlagen:

Die galoppierende Gertie

So fand beispielsweise die Washingtoner Tacoma Narrows Brücke – welche zum Zeitpunkt ihrer (ersten) Fertigstellung am 01.07.1940 immerhin die drittgrößte Hängebrücke in den Vereinigten Staaten von Amerika war – bereits circa vier Monate nach Eröffnung ihr vorzeitiges Ende. Hinter ihrem Haupttragepfeiler bildeten sich bei Seitenwind Luftverwirbelungen (sogenannte Kármánsche Wirbelstraßen), welche die Brücke in ihrer Eigenresonanz anregten und so stark ins Schwingen brachten, dass sie schon vor ihrem Einsturz in der Bevölkerung auf den Namen "Galloping Gertie" – die galoppierende Gertie – getauft wurde. Hier war der Wind der "Schwingungsanreger". Im Falle einer Fußballtribüne wären es beispielsweise die sich bewegenden ZuschauerInnen:

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Eigen-Resonanz

Da das gleichzeitige Springen der Tribünen-BesucherInnen die Stahlbetonk-Konstruktionen "in Schwingung" versetzt, darf diese "ZuschauerInnen-Schwingung" auf keinen Fall identisch mit besagter Eigenresonanz der Konstruktion sein. Sonst würde das Bauwerk so stark zu schwingen beginnen, dass es einstürzt (FußballerInnen wissen: Auch dies kam leider bereits vor).

Wenn man nun eine Weile in einem Klangraum wie beispielsweise einer Höhle gesanglich improvisiert, wählt man aus harmonischem Empfinden oft eben diese (stärkste) zentrale Eigenresonanz als besonders wohlklingende, tonale Basis:

Kammer-Ton

Nennen wir diese "tonale Basis" hier ruhig "Kammer"-Ton (immer wieder interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens Paul Horn´s Aufnahme “Inside The Great Pyramid” von 1976: Nur mit einem Nagra Stereo Tape Recorder und ein paar Studer Mikrofonen improvisierte Paul Horn seinerzeit im “Naturklang” der Cheops Pyramide – u.a. auch im Raumklang der Königs-Kammer sowie in Kammern der Kephren Pyramide). 

Auf oben genannte Weise verbindet man sozusagen “seinen persönlichen Klang mit dem Eigenton der Höhle”. Man stimmt überein. Man könnte wiederum esoterischer sagen: Das (auf den Ton gerichtete) Bewusstsein unseres Höhlen-Sängers verlässt dabei seinen Körper und verweilt an einem "Punkt im Raum" – zwischen Körper und Höhlenwand. Es verlässt die Direktlinie “Ohr hört (kontrollierend) nur die eigene Stimme”. Bezogen auf die heutige Bühnen- und Studioarbeit könnte man sagen: Unser Beispiel-Sänger ist nicht nur “bei sich” – sondern insbesondere “vor der Bühne bei den ZuhörerInnen” – im Raum(klang).

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Hall: Das "Ich" klingt im Raum

Dieses "Ich klinge im Raum-Erlebnis" – zum Beispiel auch über die Wahrnehmung des Hallen-PA- Sounds vor der Bühne – ist eine sehr grundsätzliche Erfahrung und eine wichtige und hilfreiche Wahrnehmung im Resonanzbestreben jedes singenden Menschen: Das in sich geschlossene, autarke Persönlichkeit-Körper-System des "Ich" verbindet sich mit der Außenwelt, klingt mit ihr zusammen, stimmt mit ihr überein und wird somit "Eins" mit ihr. Die individuelle Person (neben persona = Maske eben auch: personare = hindurchklingend, "aus sich klingend") erlebt den Nachhall (= zusammen klingend) als Resonanz (resonare = zurücktönen): Ein gemeinsames Drittes ist entstanden: Die Verbindung von Mensch und Höhle. Die Verbindung zwischen Innen und Außen. Die Verbindung zwischen KünstlerIn und Publikum.

Und auch der ursprüngliche Sinn des Wortes "Hall" gibt hier Aufschluss: Schlägt man im Duden Herkunftswörterbuch unter dem Begriff "Hall" nach, wird man von dem in mittelhochdeutscher Zeit gebildeten Substantiv hal, welches soviel wie "Schall, Klang" bedeutet, zu dem von diesem Wort "hallen" verdrängten, mittel- hochdeutschen, starken Verb hellen, ahd. hellan (was wiederum soviel wie "schallen, ertönen" heißt) verwiesen. Dieses Verb stellt sich wiederum zu der germanischen Wortgruppe von hell, zu der auch holen, ursprünglich "schreien, rufen" gehört. Hier gibt es nun den Querverweis auf den Begriff "einhellig", zu dem – folgen wir ihm über einige Weiterbildungen wie "übereinstimmend" – der folgende Satz zu finden ist (Zitat Duden): "Der eigentliche Sinn ist "zusammenklingend".

Fazit:

Was bedeutet all dies nun z.B. für die Kopfhörer-Mischung?

Wenn sich SängerInnen nicht „selbst kontrollierend zuhören“ (und der Weg „Mund zu Ohr“ ist nirgendwo so radikal reduziert wie unter einem Kopfhörer!) und sich stattdessen auf den „sie umgebenden Raum(klang)“ und mental „auf den Raum zwischen sich (Bühne) und den ZuhörerInnen“ konzentrieren, kann sich u.a. der Kehlbereich besser entspannen.

Mir fällt dazu das (etwas hinkende) Beispiel des „vorausschauenden Autofahrens“ bzw. des „Schere-Schneidens auf einer Linie“ ein: Sie müssen in beiden Fällen „vorausschauend aufs obere Ende der Linie bzw. Straße“ schauen – dann wird der Schnitt gerade und die Autofahrt endet nicht im Fiasko ;-) Der Aspekt „Zielpunkt ansingen“ ist äußerst wichtig:

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Mentales Sendungs-Bewusstsein

„Soweit wir einen Ton mental senden – soweit ist er auch zu hören“ lautet eine Anweisung in der Gesangs-Unterrichtung. All dies ist übrigens – neben Punkten wie „Show- und Bühnenpräsenz“ – auch ein Hauptgrund für die Notwendigkeit des „Auswendig-Singens“: Der Blick aufs Notenblatt führt – neben einem für uns SängerInnen stimmlich ungünstigen „Hoch-Tief-Denken durch das Verfolgen des Notenverlaufs“ (dazu an anderer Stelle vielleicht einmal mehr) – unter anderem zu einem eingeschränkten Raumempfinden: „Ich – bis – Notenblatt“. Einmal ganz abgesehen von der Hirnhälften-Nutzung – Lesen versus Singen – siehe Vorartikel.

Und nebenbei bemerkt: Wie sich Menschen anfühlen, die Sie beim Sprechen niemals ansehen, sondern wegsehen und sich während vermeintlich schlauer Ausführungen lediglich von Ihnen ansehen lassen – das wissen Sie wahrscheinlich: Neben aller Arroganz die so etwas vermitteln kann („Du darfst mir zuhören“): Der Betreffende ist jedenfalls nicht bei Ihnen, sondern degradiert Sie auf eine recht unschön-passive Bedeutung des Wortes „Zu-SchauerIn.“ Fatal – wenn doch „der Funke von der Bühne in die „Hall-e“ überspringen soll“.

Die immer wieder mal gehörte Aussage: „Das ist doch gefuscht: Mit Hall klingt die Stimme doch nicht so, wie sie wirklich ist, sondern irgendwie nach mehr als eigentlich da ist...“ ist an für sich auf den ersten Blick zwar völlig korrekt – aber: 

Offene Weite

Der durch den Hall eintretende Entspannungseffekt führt darauffolgend jedoch tatsächlich zu einem echten „Mehr an Stimmklang“:

Ähnlich des Sängers, welcher sich „aufgrund schlechten Bühnenmonitorings nicht hört“ und fälschlicherweise automatisch mit Luft nachdrückt, um vermeintlich lauter zu werden – so verleiten auch gedämpfte, tote Raumklänge zu einem „ich muss (mehr) machen“. Offene, weite und lebendige Räume hingegen zu „das klingt (von alleine) toll und macht Spaß“.

Die überaus positiv-entspannende Aus-Wirkung vom „kleinen Bißchen Hall“ ist mir in den letzten fünfundzwanzig Jahren von unzähligen gecoachten SängerInnen bestätigt worden. Probieren Sie´s aus – Sie müssen den Hall ja nicht aufnehmen ;-)

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Nachhall

Und wo es heute bereits soviel um „Resonanz“ ging, möchte ich mich – nun zum Ende dieser 10-teiligen Serie – noch ganz herzlich für die gute Resonanz auf die zurückliegenden Artikel bedanken! Die LeserInnenzahlen der Coaching-Artikel liegen bereits jetzt weit im fünfstelligen Bereich – und dies, obwohl die meisten Texte ja erst wenige Wochen online sind. Die Email-Reaktionen auf meine Artikel haben mir meine Intention – die zum Verfassen dieses Workshops führte – absolut bestätigt (einmal abgesehen davon, dass ich nun wieder wochenlang meditieren muss, um das gelobte Ego wieder klein zu bekommen ;-) LOL)

Mir ist es einfach wichtig, dass ein gewisses Know How frei verfügbar ist (á la Wikipedia – und nicht zu vergessen: á la 96kHz.de) und KünstlerInnen nicht erst in die gesangliche Ausbildung finden, wenn „die Stimme irgendwie nicht mehr so will“. Bleibt die ausbildende Unterrichtung zwar besagter Weise ein „individuelles Praxisfeld zwischen LehrerIn und SchülerIn“, welches niemals von theoretischen Schriften ersetzt werden kann – so freut es mich doch sehr, dass meine Ausführungen von Kaffeetrinken über Hormone bis Kopfhörer so positiven Anklang finden ;-) Danke!

Wer sich weiter in die gesangliche Thematik einlesen will, dem sei meine Website www.DERGRUBE.de mit umfangreichen Informationen und weiterführenden Links ans Herz gelegt: Denn um letzteres geht es mir in meiner Arbeit als Coach – sowie auch allgemein in meinen Musik-, Film- und Buch-Projekten: Mehr Herz, mehr Inhalt und mehr Wertigkeit in unserer Kulturschaffenden Tätigkeit – wir haben es in der Hand (am Regler). Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit und verbleibe in der Gewissheit: Wir hören mit Sicherheit noch voneinander!? (tg)

Demnäx mehr!

Info zu 96kHz:

Seit 2015 ist die Website www.96kHz.de offline.

Die hier archivierte Vocalcoaching-Serie 
war von 2009 bis Anfang 2015 im Onlinemagazin auf 96kHz.de zu lesen.
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